Der Lauf
Der Lauf
Das Kapitel über den Lauf habe ich absichtlich in der Gegenwart geschrieben, um eine bessere Beschreibung der Geschehnisse zu geben.
Ein lauter Knall! Der Startschuss ist gefallen. Die Masse jubelt während amerikanische Kampfflieger über unseren Köpfen ihre Formation drehen. Wahnsinn!! Es geht endlich los! Es kribbelt. Auf der (Luftlinie) etwa 100 Meter entfernten Brücke sehen wir die Profis loslaufen. Unsere Menge bewegt sich langsam vorwärts. Vorsicht: weitere unglaubliche Straßenschäden. Bloß aufpassen wo man jetzt hintritt. Bis zur Startlinie brauchen wir noch etwa 10 Minuten! Und dann geht es im Laufschritt weiter. Wir sind auf der Verrazano Bridge, Musik tönt aus Lautsprechern, wo auch immer diese stehen. Es sind einfach so viele Leute um uns herum. Wir sind dabei! Wir lächeln uns an und blicken herum, um möglichst viel aufzunehmen. Jetzt läuft die Videokamera richtig warm. Das muß man einfach filmen. Glücklicherweise laufen wir oberhalb der zweistöckigen Brücke, wo sich ein fantastischer Blick auf die riesige Stadt New York eröffnet. Ich bleibe kurz an der Seite stehen, um zu filmen. Was ist das? Die ganze Brücke bewegt sich auf uns ab. Stimmt, da hatte mal jemand was erwähnt. Was für ein Gefühl! Das Schild „1 Meile“ taucht auf. Wir sind jetzt schon fast über die Brücke. Die liegengelassenen Kleidungsstücke häufen sich auch hier.
Wir sehen Sie schon jetzt: die Zuschauer am Ende der Brücke. Jubelnd, schreiend! Es ist unbeschreiblich. Hatten wir mit so etwas gerechnet?!
Inzwischen hat sich unsere 6er-Gruppe geteilt. Wir laufen noch zu dritt zusammen. Der Weg führt uns jetzt Richtung Brooklyn. Wir laufen absichtlich an der freien Seiten. Die Zuschauer rufen! Und was sie rufen: sie rufen tatsächlich unsere Namen!! Es ist das Wahnsinn!?! „Go on germany“ – „Christoph, you’re looking great“. Es läuft mir beinahe kalt über den Rücken, so überwältigt bin ich von der Menge, den Zuschauern, diesem Event! Auf einem Balkon auf der linken Seite steht ein junger Mann und schlägt im Rhythmus auf eine Glocke. Alle schauen hoch und klatschen zu den Schlägen des Mannes. Die Stimmung schwappt auf alle über. Ich halte meine linke Hand heraus. Die an der Seite stehenden schlagen ab. „Christoph, come on…“. Wieder die Rufe! Inzwischen haben wir bestimmt schon 4 Meilen hinter uns, aber keiner guckt jetzt auf Zeiten oder Schilder. Ein Feuerwehrkran mit Feuerwehrleuten. Ich winke hoch, sie rufen zurück.
Und jetzt kommt die Sonne richtig heraus und wärmt. Ein Glück haben wir uns für die kurze Laufkleidung entschieden. Vor uns taucht ein weiterer Kran auf, diesmal offizielle Fotos von Brightroom Event Photography. Alle Läufer winken, schreien. Ist das dort eine Kamera? Fernsehen? Alle wollen drauf! Gedanken an die Familie zuhause. An alle, die Glück gewünscht hatten und vor dem Fernseher die Daumen drücken würden. – Und es geht weiter, unter einer mittelgroßen Autobrücke hindurch. Hier herrscht eine wahnsinnige Akustik. Alle rufen, jubeln, freuen sich daß sie in diesem Moment hier laufen. Wir treffen auf Verkleidete, die aus der Masse herausstechen. Und was ist das? Plötzlich taucht auf der linken Seite eine Live-Band auf, die schon von weitem zu hören ist. Unglaublich! Toll! Inzwischen auch die erste Getränkestände bei jeder Meile. Leider keine Ausgabe von Verpflegung. Aber noch denkt daran keiner. „Go Christoph!“ Wir müssten schon in Brooklyn sein.
In den Straßen herrscht auf einmal eine wahnsinnige Lautstärke. Die Zuschauer an den beiden Seiten dicht an dicht geben alles! Die Kamera nimmt diese Momente natürlich auf. Was ein Glück, daß ich sie dabei habe. Wieder Hand heraus. Zusätzlich rufe ich zu und versuche eine kleine Laola zu erzeugen. Die Zuschauer sind dabei! „Hey Germany!“ Rufe der Zuschauer jetzt fast im Sekundentakt. „Allright Christoph“ Das Spiel mit dem Publikum bringt einfach nur Spaß. Ich rufe „Wahnsinn“ in die Kamera. Es ist inzwischen eine permanente, unglaubliche Stimmung! Vor mir ein Läufer mit der Rückenaufschrift „You’re faster than you think you are“. So ist es! Aber Schnelligkeit zählt für mich in diesem Moment nicht!
Die nächste Band steht an der Seite. Auch wenn es nur kurze Momente sind, in denen wir sie hören. Es gibt einen unglaublichen Schub. Und wenige Meter später pulsierende Musik vom Band. Die Meilen vergehen dadurch wie im Flug. „Deutschland“ ruft ein Mann von der Seite. Aha, da sind also die Deutschen an der Strecke. Meine Kamera scheint die Leute noch mehr zu beflügeln. Kreischende Mädchen und lautstarke Rasseln im Moment des Vorbeilaufens. Und wieder klatschen die meisten meine heraushaltende Hand ab. Und dann das nächste Schild: Meile 12. Fast die Hälfte ist bereits geschafft.
Es geht mir ein Glück noch blendend. Kurz darauf auch das Schild mit der Aufschrift „20K“ für Kilometer. Ich treffe auf einen Deutschen, er ist ebenfalls guten Mutes. Und dann erreichen wir die zweite von insgesamt 5 Brücken. 13 Meilen und die Hälfte ist geschafft. Ich laufe an einem Nashorn vorbei. Ja! Die Aufschrift „save the rhinos“ trägt er auf dem Rücken. Die Steigung merkt man aber schon. Zeit stehen zu bleiben, Fotos zu machen und weiter zu filmen. Am Ende der Brücke schallt es sogar aus Lautsprechern „Germany!“ Ein Sprecher steht an der Seite und kommentiert die Vorbeilaufenden. Und dann erreichen wir auch schon bald die nächste Brücke, die Queensboro Bridge.
Es geht also nach Queens. Man sieht die ersten Leute gehen. Auch ich merke beim Lauf auf der Brücke aus Stahlträgern wie meine Beine schwerer werden, das Tempo wird langsamer. Hier stehen wenige Zuschauer an der Seite, da wenig Platz ist. Die Steigung scheint nicht zu enden. Kurzes Stehenbleiben, um zu filmen bringt nur mässige Entlastung. War das Anfangstempo doch zu hoch? Eigentlich war ich doch lockerer als im Training unterwegs. Aber es war vorher gesagt worden: die Strecke durch New York wird keine leichte.
Ich schiebe die Gedanken beiseite, denn das Ende der Brücke naht und es eröffnet sich der Blick auf riesige Menschenmassen, die schreiend in der dortigen Haarnadelkurve stehen. Wir sind bei Meile 16 verraten die Schilder. Hier wollte doch unsere Begleiterin an der Strecke stehen. Noch sind wir zu dritt, halten Ausschau. Niemand ist zu sehen. Was würde ich jetzt für eine Banane geben. Die mitgenommenen Energie-Marshmallows für alle zehn Kilometer bringen zwar Energie, aber mein Körper verlangt mehr. Die Brücke war hart! Ich entscheide mich zu Handeln und will meine zwei Mitläufer ihr Tempo laufen lassen. Ich drücke die Gedanken wieder weg und beginne erneut, mit dem wahnsinnig lauten Publikum zu kommunizieren. Mein Arm bewegt sich auf und ab. „Make some noise!“ rufe ich. Und sie antworten, sie geben mir Energie! Ein Glück! „Go on Christoph!„.
Wir kommen zur First Avenue. Ein unglaublicher Blick. Vor uns eine scheinbar endlos lange Strasse, die im Verlauf 3 Meilen oder mehr geradeaus gehen wird. Meile 17 ist erreicht. Ich merke Krämpfe im rechten Oberschenkel. Darf das denn wahr sein?!
Aber dann die Erlösung: Meile 17! Stimmt, da war doch was: unser Reiseveranstalter. ich erblicke das Schild „Karstadt-Reisen„. Noch sind wir zu dritt. „Ihr seid die Rettung!“ Wir werden mit Bananen versorgt. Habe ich schonmal so erleichtert eine Banane verspeist? Zeit für ein Foto ist allemal! Ich bin einfach nur glücklich, trotz der schweren Beine. Ich nehme noch eine Banane mit, danke nochmals und laufe weiter. Noch sind die Krämpfe da. Meine Mitläufer sind inzwischen schon weiter und ich bin auf mich allein gestellt. Aber Moment, was heißt hier alleine!? Um mich herum hunderte andere, die zum Teil wie ich kämpfen. Dabei haben wir doch erst knapp über 27 Kilometer hinter uns. Aber die Bananen zeigen schnell Wirkung. Und auch die Zuschauer an der Seite sind ja noch da. Ich halte die Kamera drauf: „Make some noise!“ fordere ich erneut und werde auch hier nicht enttäuscht. Sie pushen mich und geben mir Kraft. Vom Schweinehund, von einigen liebevoll „Schweini“ genannt, hatte ich gehört, aber ich ließ ihn nicht auf meine Schulter. Weiter geht’s! Schwämme werden verteilt und die Abkühlung tut gut! Die Helfer nehmen sich sogar noch die Zeit einzelne Läufer verbal zu motivieren. Danke! Und ich finde tatsächlich schnell mein eigenes Tempo wieder was mit jederm Kilometer wieder leicht zunimmt. Dabei ist die Zeit vollkommen egal! Aber vom Gefühl her läuft es sich jetzt toll. Ich beginne wieder das Publikum zu animieren und das Schild 30 Kilometer taucht vor mir auf! ich fühle mich besser und besser! Den kurzzeitigen Einbruch weggesteckt! Aber die berüchtigten 35 Kilometer sollen erst noch folgen. Die First Avenue geht zuende. Nach einer Kurve vor mir die nächste, es müßte die Pulaski Bridge sein. Zum Glück ist diese Überquerung nicht mit der vorherigen zu vergleichen. „Looking good fellas“ feuert ein Mann alle Läufer an. Am Ende der Brücke dann Töne von „LaBamba“, kurz darauf Samba Sounds, die Stimmung Richtung Höhepunkt! Aber ist sie da nicht eigentlich die ganze Zeit schon, ganz oben?!!
20 Meilen. Noch 6 Meilen, also knapp 10 Kilometer liegen noch vor mir. Vor mir läuft ein Mann, er trägt eine schwarze Justiz-Robe. Sein Name Lou Montes, das steht zumindest auf seiner Brust. Auf dem Rücken der Hinweis, daß es sein 42. Marathon ist. Nach einer Weile laufe ich vor, spreche ihn an. Erzähle, daß es mein erster Marathon ist. Er freut sich, macht ein Foto mit mir und wir wünschen einander weiterhin viel Erfolg. Wir kommen nun in die Bronx. Gleich auf den ersten Metern ein Plakat mit der Aufschrift „Hier ist die Bronx“. Ein Rapper steht an der Straße und performt live an der Strecke. Dann ein Moment des Erstaunens! Wie wohl alle anderen laufe ich mit offenem Mund an einem Mann vorbei, der mit Beinprothesen und Krücken die Strecke meistert. Einfach unglaublich, beeindruckend. Wir applaudieren ihm! „You’re great, unbelievable“ rufen einige. Wir biegen nun in die Kurve Richtung Manhattan, dem letzten zu durchlaufenden Stadtteil. An der Straßenseite stehen die Zuschauer wieder dichter gedrängt vor Hoteleingängen, wie es auf den ersten Blick ausschaut.
Es geht jetzt ab zur „Endorphinparty“ im Central Park
Von den Schmerzen 10 Kilometer zuvor ist nichts mehr zu spüren! Ich bleibe jetzt nur hin und wieder stehen, um den Kindern an der Seite abzuklatschen. Eine Frau mit Baby auf dem Arm. Auch hier halte ich an, halte meine Kamera und sage „Give me five little girl“ Ich klatsche leicht ihre Hand und ihre Eltern lächeln mir zu, wünschen weiterhin viel Erfolg. Es sind jetzt diese Momente die mir mehr und mehr Energie geben. Und dann erreiche ich den Rand des Central Park. Die Endorphine feiern Party! In diesem Moment versuche ich mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal so beflügelt, voller Freude war. Mir fällt kein Moment ein. Und ich merke, daß es diesen Moment vielleicht in ähnlicher, aber nicht in diesem Dauerzustand gegeben hat. Meine Kamera hält nun soviel fest wie es geht. Und klar, die „Christoph“, „Germany“, „Deutschland“ und auch „Hamburg“ Rufe sind weiterhin mit von der Partie. Es häufen sich auch die Deutschen an der Strecke. Jeden Moment geniessen, es wird wahr! Aber nein, es ist schon die ganze Zeit Wahrheit!
Eine Gruppe Franzosen taucht auf und singt „Vive la France„. Aber meiner Aufforderung „Make some noise for Germany!“ kommen sie ebenfalls nach. Die Meilen-Schilder fliegen, so scheint es in der Euphorie zumindest, nur so an mir vorbei. Ich treffe nochmals unsere Streckenbegleiterin und auch die Karstadt/Gruppe. Ich bin jedoch so aufgeladen, daß ich nur für ein kurzes Foto stehenbleibe. Verschwunden sind die Gedanken über schwere Beine und das Verlangen nach Bananen. Es zählt nur noch der Moment. Dann kommt sie, die letzte Kurve, in der eine große Leinwand steht, die Livebilder überträgt. Hier waren wir einen Tag zuvor auf fast leeren Straßen spazieren gewesen. Jetzt ist die Hölle los, obwohl die Kameras hier leider schon abgebaut sind. Aber das fällt in diesem Moment gar nicht auf. Ich lenke meinen Blick in die relativ große Kurve. Polizisten stehen dort. Alle Läufer laufen im inneren der Kurve. Ich entscheide mich bewusst außen zu laufen. Die Zuschauer danken mir diesen Umweg mit tosendem Applaus. Wow! Diese Momente sind fantastisch! Ich klatsche wieder ab, Kinder, Erwachsene, alle geben mir „High Five„.
Das Schild „1 Meile“ hinter mir gelassen, sehe ich im Augenwinkel die Ankündigung „noch 400 Meter„. Es überkommt mich ein schwer zu beschreibendes Gefühl. Jeder der diesen Lauf in New York gemacht hat, wird wie mir viele bestätigen, diese Meinung teilen können. Ich denke: „Wie, es ist gleich vorbei?!“ Es geht so schnell und mir wird bewusst, daß es die letzten Meter eines ein Jahr geplantes Laufes sind. Die letzten Meter meines ersten Marathon, den ich jetzt definitiv schaffen werde. Ich würde eigentlich lieber länger laufen. Verrückt! Es heißt jetzt einatmen und die ganze Atmosphäre, alle Emotionen noch einmal aufnehmen. Ich will diesen Moment am liebsten einfrieren. Gänsehaut pur! – Noch 200 Meter. An den Seiten tauchen die gefüllten Tribünen auf. Die Leute rufen, klatschen. Aber geht das nicht noch lauter? Meine Chance nochmals für noch mehr Stimmung zu sorgen. 100 Meter vor dem Ziel bleibe ich vor den Tribünen stehen. Ich halte meine Kamera in die Menge und rufe den Zuschauern lautstark zu. Sie sehen mich und sie flippen aus. Für die Leute, für die Kamera, für diese fantastische Stimmung! Es ist gigantisch! Die Kamera läuft jetzt, auch wenn das Band in wenigen Sekunden dem Ende zugeht. Aber es wird reichen. Ich geniesse einfach den Moment der Schritte, die mich nach 4 Stunden und 52 Minuten über die Ziellinie führen.